Recherche

Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes förderte meinen Rechercheantrag von März 23 bis März 24 zum Thema „Warum um den Baum tanzen?“. Auf der Suche nach Antworten folge ich meiner Intuition und lasse mich von Vermutungen und gefundenen Informationen leiten. Im Laufe der Arbeit öffnen sich interessante Türen zu unvermuteten Quellen und es ergeben sich überraschende Kontakte zur Zusammenarbeit. Tanz als Kunstform funktioniert auf allen Ebenen – mit Laien und Professionellen. Mein Anliegen ist es, den Tanz mit seinem naturverbundenen Aspekt im BaumRaum in Beziehung zu bringen und daraus Neues, vielleicht eine Resilienz, für unsere krisenbestimmte Zeit zu entwickeln.

Warum um den Baum tanzen? Tanz um den Maibaum und Walpurgisnacht

Warum um den Baum tanzen? 

21. Juli 2023

Tja, warum um den Baum tanzen? Die Frage stelle ich mir immer wieder – jetzt, wo ich auf einer runden, hölzernen Plattform unter unserer Trauerweide um den Baum tanzen kann. Vorher bin ich nie auf die Idee gekommen, mir dazu Gedanken zu machen.

Jetzt interessiert mich das Thema brennend. Ich weiß, dass die Menschen seit alters her um den Maibaum tanzen. Das ist einer der ältesten Bräuche in Deutschland. Woher der Brauch kommt, ist unklar. Historiker*innen vermuten, dass es eine germanische Tradition ist, die auch in Zentral- und Nordeuropa gepflegt wurde. Z.B. wurde um einen dafür errichteten Baum in Skandinavien zu Mittsommer getanzt. Der Brauch hat sich regional sehr unterschiedlich entwickelt und mit dem Einzug des Christentums wurden viele heidnische Bräuche verboten. So kann es sein, dass auch der Tanz um den Baum lange Zeit verboten war, bis die erste schriftliche Nennung 1224 auftaucht. Die heutige Form geht auf das 19 Jh. zurück, wobei sich unterschiedliche regionale Bräuche entwickelt haben. Doch allen gemeinsam ist das Aufstellen des Maibaums am 30. April, das Entfachen des Mai Feuers und das Tanzen. Heute wird der „Tanz in den Mai“ eher als Volksfest oder Party gefeiert, der rituelle Charakter ist meist verloren gegangen. Die Nacht auf den 1. Mai wird auch als Hexennacht bezeichnet, obwohl diese, auch bekannt als Walpurgisnacht, eigentlich einen anderen historischen Hintergrund hat.

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Walpurgisnacht

28. Juli 23

Jedes Jahr kommen in der Nacht auf den 1. Mai tausende Hexen nach Thale, auf den Hexentanzplatz im Harz, um die Walpurgisnacht zu feiern. Nach germanischem Glauben vertreiben Freya und Wotan die Winterdämonen und zeugen den Frühling. Der Hexentanzplatz, auf einem Bergplateau gelegen, scheint ein altsächsischer Kultort zu sein, auf dem für die Hagedisen (Wald- und Berggöttinnen) vorchristliche Feste der Verehrung gefeiert wurden. Mit dem Einwandern der christlichen Franken wurden diese Rituale verboten.

Ein weiterer germanischer Kultort, auf dem getanzt wurde, ist der Brocken oder Blocksberg. Überlieferungen erzählen, dass die Tänzer*innen von Tahle aus auf ihren Besen, Katzen, usw. Richtung Brocken gestartet sind, um sich dort mit dem Teufel zu paaren.

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Bereits um 1300 wird in einem Gedicht von einem Sammelplatz von „Geistwesen“ auf dem Brocken berichtet. Um 1540 wird der Brocken erstmals als einer der Tanzplätze in der Walpurgisnacht erwähnt. Die Nacht wird nach der Äbtissin Walburga von Heidenheim (710 – ca. 780) benannt, die als Tochter des westsächsischen christlichen Königs Richard und seiner Frau Wunna in England geboren wurde. Walburga war eine Benediktinerin, Wundertätige und Schutzheilige und wurde als Missionarin nach Deutschland geschickt.  „Walburga wurde zur Reichsheiligen erhoben und zu einer der am meisten verehrten und volkstümlichsten Heiligen“. Sie wurde am 1. Mai 870 heiliggesprochen. Quelle Zitat

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Sagen und Märchen aus dem Harz (Sammlung auf Wunsch von Jacob Grimm 1851) und Goethes Faust I (1808), in dem er den Brocken als Handlungsort für die Walpurgisnacht beschreibt, haben vermutlich dazu beigetragen, dass sich der Brocken als Tanzplatz bis heute hält und sich zu einem touristischen Highlight gewandelt hat.

Meine Frage „Warum um den Baum tanzen?“ hat mich über meinen ersten Impuls zum Tanz um den Maibaum zur Hexennacht und zu den Hexenversammlungen in der Walpurgisnacht auf die Tanzplätze im Harz geführt. Beide überlieferten Tanzbräuche gehören zu den ältesten Überlieferungen von Bräuchen in Deutschland. Der Tanz um den Maibaum als ein volkstümlicher und solide organisierter Brauch mit strenger Tradition. Der Tanz auf den Tanzplätzen in Thale und auf dem Brocken gilt als wild und ausgelassen.

 

Tanzwut

03. August 2023

Meine nächsten Fragen:

  • Was steckt hinter diesen alten Bräuchen, was waren das ursprünglich für Tänze, deren Erscheinung sich bis heute gehalten hat?
  • Gibt es mehr fundierte Hintergrundinformationen dazu?
  • Gibt es einen Bezug zu meinem Baumthema?

Bei den Tänzen auf dem Brocken und in Thale vermute ich rituelle, archaische Tänze, die eng mit den Vorgängen in der Natur und den Ängsten der Menschen verbunden waren und für die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen getanzt wurden: Fruchtbarkeit, Ernteglück und Schutz vor Unheil. Durch die Christianisierung der Region wurden diese Rituale vermutlich unterdrückt und „verteufelt“. In dem Text „Tanzwut“ von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten habe ich eine Erwähnung von Tanzwut und die These einer Zuordnung gefunden. 

In Kölbigk, 90 Kilometer vom Brocken entfernt, wurde 1074 ein Anfall von „Tanzwut“ festgestellt und diese in vielen Erzählungen über viele Jahrhunderte überliefert. „Achtzehn Frauen und Männer hätten in der Weihnachtsnacht auf dem Friedhof ……. gesungen, gelärmt und getanzt und auf diese Weise die Weihnachtsmesse gestört“ (1). Die Kirche verurteilte und bestrafte die Tanzenden schwer – Tanzen ist Teufelswerk, durch ihn holt sich der Teufel die Seelen. Die Tanzenden wurden als nervenkrank, als Epileptiker bezeichnet. Damit dämonisierte die Kirche das Tanzen, gleichzeitig wurden die Auswirkungen von „tanzwütigem Tanzen“ als krankmachend verurteilt. Röcke und Velten bezeichnen die körperlichen Reaktionen der Überlebenden, Zittern und zwanghafter Bewegungsdrang, als zwanghaftes Tanzen und beziehen sie schließlich auf den Veitstanz. Veitstanz bezeichnet eine erbliche, degenerative Funktionsstörung des Gehirns – Chorea Huntington (Chorea = Tanz) 1841 erstmals beschrieben, 1872 benannt nach dem Nervenarzt Georges Huntington.  

Die Dämonisierung und Pathologisierung des Tanzes durch die christliche Kirche und die Wissenschaft erschüttern mich! Auf meinen mehrjährigen Reisen auf den Spuren des Tanzes durch Südostasien, Indien, Nepal und Sri Lanka bin ich immer wieder auf animistische Tänze gestoßen. (Animismus: der „Glaube“, dass alles eine Seele besitzt) Tänze, die aus der Zeit stammen, bevor eine Religion ein Land oder eine Gemeinschaft erobert hat. Diese Tänze und Tanzrituale wurden in das kulturelle Erbe integriert und behielten ihre Wirkkraft und Bedeutung bis heute.

Im mehrheitlich buddhistischen Sri Lanka sind das die Kohomba Kankariya und die Bali Shanti. In der Kohomba (der Neembaum) Kankariya werden die Götter des Baumes verehrt, um Fruchtbarkeit und Wohlergehen z.B. für ein Dorf gebeten. Eingebettet ist das Ritual in die Geschichte von der Ankunft des bengalischen Prinzen Vijaya auf Sri Lanka, der von der eingeborenen Prinzessin verflucht wird. Die Geschichte spielt lange vor der Ankunft des Buddhismus durch den Missionar Mahinda. Die Bali Shanti Karmaya wird für Menschen mit psychischen Problemen zelebriert, indem planetarische Gottheiten, menschengroß als Tonrelief geformt, die Problematik durch uralte verbale Rezitationen der Tänzer aufnehmen. Die Tonreliefs und werden am Morgen nach dem Ritual zerstört. Beide Rituale habe ich in voller Länge, einen Tag und eine Nacht miterlebt. Heute werden sie nicht mehr zelebriert, weil sie unbezahlbar geworden sind. Im Falle der Bali Shanti gehen die mündlich überlieferten Texte verloren.

Das Wissen über den Verlauf und ihre Bedeutung u.a. dieser Rituale sind fester Bestandteil des verpflichtenden Tanzunterrichts an allen Schulen und der Abiturprüfungen. Und sind jetzt glücklicherweise vom Department of Fine Arts, University of Peradeniya, Peradeniya, Sri Lanka gut dokumentiert.


(1) Werner Röcke/Hans Rudolf Velten in Tanz als Anthropologie (Hrsg. G. Brandstetter, C. Wulf) S. 311

Die Linde: Ein umtanzter und verehrter Baum

Die Linde – ein Naturwunder – ein Wunder der Natur – ein Naturdenkmal

18. Dezember 2023

Um in meiner Fragestellung „Warum um den Baum tanzen“ zu bleiben, untersuche ich jetzt die Bedeutung der Linde. Sie ist der einzige Baum, um den nachgewiesenermaßen getanzt wurde und noch immer getanzt wird. Es ist erstaunlich, wie viel Bedeutungen dieser Baum für die Menschen hatte und hat, und wie weit die Geschichte seiner Verehrung und der Baumkulte zurückreicht. Und wie stark und überlebensfähig – resilient – die Linde ist.
Kulturgeschichtlich ist die Linde als der wichtigste und wertvollste Baum eingestuft. Funde von Millionen Jahre alter Lindenfossilien aus subtropischen und gemäßigten Klimazonen bezeugen ihre Anpassungs- und Überlebensfähigkeit. Im englischen Westonbirt wurde das Alter einer lebenden Linde auf 6.000 Jahre beziffert, was Fachleute aber bezweifeln!
Die Linde ist sehr langlebig, außer sie stirbt durch äußere Umstände oder die Wurzel wird verletzt. Sie reagiert heutzutage empfindlich auf Luftverschmutzung, ansonsten ist sie äusserts robust und regenerationsfähig. Starker Beschnitt oder abgebrochene Baumteile können ihr nichts anhaben. Sie verjüngt sich immerfort durch neue Kronentriebe oder Luftwurzeln (Adventivwurzeln), die den Stamm verstärken. 

Fotos: Gerhard Mösel, 2005

Die Schützenlinde steht in Stein am Rhein, im Kanton Schaffhausen, und ist in Privatbesitz. Sie gilt als die schönste geleitete Linde in der Schweiz und verfügt über zwei Astkränze. Die Fotos stammen aus dem Jahr 2005 und wurden mir von Gerhard Mösel zur Verfügung gestellt. Er war bis vor drei Jahren der Besitzer der Sommerlinde. Leider ist sie heute in einem sehr schlechten Zustand und man fürchtet um ihr Überleben. Wahrscheinlich haben bauliche Veränderungen auf dem Grundstück die Wurzel beschädigt. Ich werde sie im Frühling besuchen und schauen, ob ihr die Verjüngung gelingt. Michel Brunner datiert ihre Pflanzung in das Jahr 1636 (1), bei Rainer Graefe wird die Linde schon 1580 als imposanter zweistufiger Baum mit einer hölzernen Plattform beschrieben (2).
Es kann sein, dass es sich bei der Beschreibung von Rainer Graefe um eine Schützenlinde in der Stadt Schaffhausen handelt.

Quellen: Michel Brunner, Baumriesen der Schweiz, 6. Erweiterte Auflage, CH-Thun, Werd und Weber Verlag, 2014. Rainer Graefe, Bauten aus lebenden Bäumen, Geleitete Tanz- und Gerichtslinden, Aachen-Berlin, Geymüller – Verlag für Architektur, 2014. Ruth Schneebeli-Graf, Die Linde, Ihre Geschichte und Geschichten, 1. Auflage Bern, Hep Verlag AG, 2008.
(1) Brunner, 2014, S. 160, (2) Graefe, 2014, S. 47

Von den 45 bekannten Arten sind nur die die Sommer- und die Winterlinde in Mitteleuropa heimisch. Die Tanzplattformen in Oberfranken sind auf Sommerlinden errichtet. Die Sommerlinde gedeiht in Mittel- und Südeuropa, als zusammenhängendes Waldstück finden wir sie noch im Biosphärenreservat Pfälzerwald-Nordvogesen. Die größere Ausbreitung der Winterlinde reicht in den Norden und bis zum Ural. Die größte Winterlindenpopulation steht in Colbitz, Sachsen-Anhalt, mit 220 Hektar. Es gibt kaum mehr unberührte Lindenurwälder, durch Nutzung und Abholzung ohne Aufforstung sind sie nahezu ausgerottet. 
Eine Altersbestimmung ist schwierig, da alte Bäume meist hohl sind, und somit eine Altersbestimmung anhand der Jahresringe oder der Radiokarbonmethode nicht wirksam ist, da alte Stammteile fehlen. Beide Lindenarten werden europaweit vermehrt aufgeforstet, sie gelten als besonders wertvoll und bilden z.B. mit der der Eiche eine begünstigende Nachbarschaft. 


Die kulturgeschichtliche
Bedeutung der Linde

Die überlieferten Baumkulte bezeugen eine Kulturgeschichte des heutigen Europas nach der Christianisierung, die Bedeutung der Linden- bzw. Baumverehrung in vorchristlicher Zeit werde ich in einer weiteren Recherchephase herausarbeiten. Aus anthropologischer und ethnologischer Sicht können wir davon ausgehen, dass Baumverehrung immer mit rituellem Tanz verbunden war.
Heute gilt die Linde als Baum der Liebe und verkörpert ursprünglich Freya, die germanische Göttin der Liebe, des Glücks, der Fruchtbarkeit, Schönheit und des Friedens in Haus und Dorf. Vom Lindenblatt wurde die Herzform ❤️ übernommen, als Symbol für die Liebe und unser lebenswichtigstes Organ, das Herz, das optisch keine Ähnlichkeit mit dieser Form aufweist. 

So sagen die einen. Die anderen, u.a. die Geschichtsforscher, bezweifeln den Status der Linde bei den Germanen, denen eher die Verehrung von Eibe und Eiche nahestand.
Die ältesten Linden Europas sind vorwiegend in Deutschland zu finden und stehen oft neben alten Kirchen. Sie werden auf ca. 1250 Jahre geschätzt. Rückschlüsse auf die Pflanzung der Linden in der Zeit der Christianisierung liegen nahe.  Mit dem Beginn des Glaubenskampfes der Christen ließen Bonifatius, Apostel der Deutschen (672-754) und Karl der Große (747-814) auf ihren christlichen Feldzügen die heiligen Bäume der Heiden fällen und pflanzten die langlebige Linde neben Kirchen. Karl der Große ordnete 812 an, dass neben jedes Gehöft eine Schutzlinde gepflanzt werden muss.
Die Göttin Freya wurde durch Maria ausgetauscht und mit den liebevollen, mütterlichen, präferiert weiblichen Eigenschaften der Gottesmutter ausgestattet. In hohlen Linden wurden Marienstatuen, aus dem heiligem Lindenholz geschnitzt, aufgestellt, oder ein Marienaltar angebracht. Es gab Marienerscheinungen bei Linden. Die Kultplätze der Germanen wurden durch das Fällen der Eiben und Eichen entmystifiziert. 
Hier kann ein Bezug zu den Tanzplätzen bei Thale und auf dem Brocken hergestellt werden, deren rituelle Bedeutung vor dem Einzug des Christentums vermutlich sehr groß gewesen war und von der Kirche entmystifiziert wurde. Sie hat mit den allerschlimmsten Strafen und Drohungen dem ursprünglichen Tanzen dort Einhalt geboten und eine Umdeutung versucht. Wenn wir heute darauf schauen, stellen wir fest, dass die einzige Überlieferung von Tanz aus der christlichen Frühzeit von diesen beiden Tanzplätzen stammt und als Volksfest „Tanz in den Mai“ oder „Walpurgisnacht“ überdauert hat. Immerhin! Siehe Walpurgisnacht.


Der Maibaum – „ambulant und stationär“

Hier kommen wir der Frage nahe, ob der Tanz um den Maibaum früher ein anderer Kult, ein anderer Tanz um einen anderen Baum gewesen ist. Leider gibt es keine Überlieferungen dazu, außer dass es sich um ein Frühlingsritual handelt, das ursprünglich Freya und Wotan gewidmet war, um den Frühling zu zeugen. Die erste Nennung von Tänzen um einen Baum stammen von 1224, es fehlen uns mehr als 1000 Jahre überlieferte Tanzgeschichte! (Siehe „Warum um den Baum tanzen?“). Wir können aber davon ausgehen, dass die Linde in vorchristlicher Zeit Versammlungsort, Gerichtstätte und umtanzter Baum war und diese Traditionen sich in die Neuzeit, „gezähmt“ und moralisiert durch Obrigkeit und Kirche, fortgesetzt haben. 

Tanz um den Maibaum, Ausschnitt aus: Pieter Brueghel der Jüngere, Dorflandschaft, 1634 (Ferdinandeum, Innsbruck)

Hier kommt die geleitete Linde ins Spiel: Es scheint so zu sein, dass das Wissen um das Leiten von Dorf- und Stadtlinden schon vor deren Pflanzung in den ersten 1000 Jahren unserer Zeitrechnung bekannt gewesen sein muss. Überlieferte ein-, zwei- und dreistufige Baumformen belegen das (3).
(3) Graefe, 2014, S. 12

In diesem Zusammenhang interessiert mich die dreistufige Linde: Sie könnte ein Symbol für den Weltenbaum der Germanen sein deren unterste Stufe den Dämonen, die mittlere den Menschen, und die oberste den Göttern zugeordnet wird.  
Der heutige Maibaum kann die ambulante, transportable Variante, die geleitete Dorflinde die stationäre Version des Maibaums gewesen sein. Der ambulante Maibaum ist ein langer Birken- oder Fichtenstamm, dem spiralförmig von oben bis unten die Rinde entfernt wird. Er weist in der Regel drei Kränze auf, oft mit Bändern geschmückt, und trägt auf der Spitze ein kleines Fichtenbäumchen. 
„Die enge Verbindung zwischen Maibaum und geleiteter Dorflinde ist offensichtlich und aus ihrer gemeinsamen kultischen Wurzel zu begreifen. Im Maientanz der Dorfbevölkerung um den lebenden oder aufgestellten Baum, der ursprünglich als „Dämon der Vegetation in Baumgestalt“ aufgefasst wurde, überlebt uraltes heidnisches Frühlingsbrauchtum.“ (4)
(4) Graefe, 2014, S. 13


Lindenkulte

Erste Belege für geleitete Linden finden sich ab ca. 1200, sie standen in vielen Ländern Europas, hauptsächlich im Herzen Deutschlands, in Franken. Die Bedeutung und Verehrung der Linden wurzelt tief in der vorchristlichen Zeit.

Hoflinde: Vor jedem Hof sollte eine Linde als Schutzbaum stehen
Dorflinde: Geleitete Linde im Zentrum als Versammlungsort, zum Verkünden von und Nachrichten und regeln von Streitigkeiten.

Diebold Schilling der Jüngere (1460 – 1515) Amstaldenhandel: Unter der Dorflinde von Schüpfheim tafelt Peter Amstalden, Landeshauptmann und Gastwirt, mit seinen Gesellen und erzählt von seinen aufrührerischen Plänen gegen die Stadt Luzern. Im Vordergrund notiert der städtische Beamte die Aussagen einiger Kundschafter (1478) Luzern, Korporation Luzern (depositum at the Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, S 23 fol., fol. 127v [S. 258]).

Stadtlinde: Oft mehrere geleitete Linden als Gerichts-, Tanz- und Schützenlinden
Schlosslinde: mehrstufig geleitete Linden mit meist kunstvollen Aufbauten, hier eine Tanzlinde

Urheber: Nicolaes de Bruyn

Schützenlinde: geleitet, oft neben Schützenhäusern, zum Feiern
Kanzellinde: Predigten von geleiteten Linden mit Podesten
Gedenk-/Schlachtlinden
Bannlinden: Dämonen werden in ein gebohrtes Loch in der Linde gebannt, das mit einem Pfropfen wieder verschlossen wird.
Pestlinden: Tanz um Pestlinde, z.B. in Basel, um die Pest an den Baum zu pflocken
Blut- oder Opferlinde: Muttermilch wurde von Frauen in die hohle Linde als Opfer gegossen
Freiheitslinde: In Frankreich dem 14. Juli zugeordnet
Marienlinde: Hohle Linde mit Marienstatue oder -altar im Inneren
Richtslinden: Wegmarkierungen zur Orientierung
Tanzlinden: Siehe Reisebericht

Gerichtslinden:
Die Gerichtsbarkeit unter der geleiteten Linde scheint schon in vorchristlicher Zeit stattgefunden zu haben. Gewidmet der Göttin Freya (Weissagungs- und Heilkraft) wurde darauf vertraut, unter dem heiligen Baum die Wahrheit zu finden. Einfache Vergehen wurden dort abgehandelt. Kein Todesurteil wurde unter den Linden von Richtern gesprochen, es wurde „linde“ geurteilt. Es galt das Recht „judicum sub tilia“ -> subtil. Die Rechtsprechung unter den Gerichts- oder Thinglinden wurde erst durch die französische Besatzungsmacht um 1800 aufgehoben. Als man in Räume umzog, ließ man die Fenster offen.
Quelle: https://www.uni-goettingen.de/de/thing-+und+gerichtslinde/41768.html 18.12 23

Femlinden:
Das Wort Feme ist seit dem 13 Jh. belegt: Die Rechtsprechung oblag dem König, er konnte sie an freie Adelige, Femengerichte übertragen (Stuhlherr und Freischöffen, die Gerichtsstätte wurde Freistuhl genannt, fand auch unter Linden statt). Femegerichte verurteilten hauptsächlich nach zwei Urteilssprüchen: Freispruch oder Tod durch den Strang.
Nahm bis 1500 stetig ab. Verfemt wurde, wer der Aufforderung vor dem Gericht unter der Linde zu erscheinen, nicht nachkam, durfte ungestraft umgebracht werden. Willkürliche Urteile.
Bis heute: ein willkürliches Urteil, durch ein illegitimes Gericht, oder Selbstjustiz, wird „Femegericht“ genannt. Rechtsextremistische konspirative Gruppierungen benutzen in der Weimarer Republik den Begriff Fememorde für politisch motivierte Morde.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Feme 23.11.2023. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vemegerichtsbarkeit 23.11.2023

Femegericht, Gemälde von Friedrich Hiddemann (1829 – 1892) – Das Wissen des 20.Jahrhunderts, Bildungslexikon, Rheda, 1931


Die Linde als Namensgeberin:

Die Herkunft des Wortes Linde kann auf das biegsame, „linde“ Holz zurückgeführt werden, der lateinische Name Tilia bezieht sich auf das lateinische Telum, Pfahl oder Stecken. Die Linde ist Namensgeberin für Vornamen, Familiennamen, Straßen, Plätze, Orte, Städte, Firmen/Marken, Lieder, Gedichte, Prosa, Farben, u.v.m.


Die Linde als Nutzpflanze:

  • Als Bienennahrung –> Honig
  • Lindenblüten als Tee und Heilpflanze
  • Lindenbast als Grundstoff für Bänder, Kleider, Schuhe, Decken, Matten usw. in der Steinzeit
  • Laubblätter als Tierfutter
  • Samen zur Ölpressung, Verwendung in der Malerei, als Kaffee-Ersatz
  • Holz für Schnitzerei von kirchlichen Skulpturen, Möbel- und Instrumentenbau, als Kohle zum Zeichnen und für medizinische Zwecke

Quellen: Michel Brunner, Baumriesen der Schweiz, 6. Erweiterte Auflage, CH-Thun, Werd und Weber Verlag, 2014. Ruth Schneebeli-Graf, Die Linde, Ihre Geschichte und Geschichten, 1. Auflage Bern, Hep Verlag AG, 2008


Tanzwut 2.0 und Massenphänomene im Tanz: Loveparade und Acid House

Nach der Lektüre der als pathologisch befundenen Tanzwut von Kölbigk im Jahr 1074 will ich wissen, ob der Begriff heute noch gebraucht wird. Ich erinnere mich, dass er im Zusammenhang mit der in den 1990er Jahren entstandenen Loveparade gefallen ist. Die Eingabe des Begriffs Tanzwut in der Suchmaschine wird vom Release der Band „Tanzwut“ überlagert. Vorher hatte ich schon Tanzwütige beim „Frühstücksrave“ entdeckt. An den Loveparades in Berlin haben Millionen teilgenommen, der Höhepunkt war 1999 mit 1,5 Millionen tanzenden Menschen!  Man stelle sich das vor!

Warum war das so? Was hat diese jungen Menschen so motiviert?

„Am 1. Juli 1989 fand die erste Loveparade, initiiert durch Dr. Motte, statt. Unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ versammelten sich ca. 150 Clubgänger*innen auf dem Berliner Kurfürstendamm für eine politische Demonstration. Doch diese sollte anders sein als alles bisher Dagewesene. Zu den Klängen ihrer neuen Musik „Acid House“ tanzten sie die Westberliner Shopping-Meile rauf und runter. Damit revolutionierten Sie die Demonstrationskultur und legten den Grundstein für die größte Jugendmusikbewegung, die die Welt je gesehen hatte.“ Quelle: Rave the Planet

Kurz darauf fällt die Mauer. Die Loveparade trifft genau den Nerv der Zeit. Eine paradiesische Zeit für Kreative bricht an. In leerstehenden Gebäuden entstehen legendäre Clubs, junge Leute aus Ost und West tanzen und feiern die Freiheit auf den Dancefloors zu der neuen elektronischen Tanzmusik.

Das Foto ist KI generiert…..

Der politische Aspekt dieser neuen Jugendbewegung, einer friedlichen Demonstration für „Frieden, Freude, Eierkuchen“, kommt nicht bei der breiten Bevölkerung an, zumal die Kritik an der Loveparade bald so zunimmt, dass sie geschwächt und von Insolvenz bedroht ist. Die Marke Loveparade GmbH wird 2005 verkauft. 2006 findet sie noch einmal in Berlin, dann 2007 in Dortmund und 2008 in Essen statt. 2009 wird sie von der Stadt Bochum abgesagt und endet 2010 tragisch mit dem Tod von 21 Menschen in Duisburg. 2019 kuratiert Dr. Motte die Ausstellung „30 Jahre Loveparade“ in der Alten Münze Berlin. Am 13. Januar 2020, wieder unter dem Initiator Dr. Motte, wird die gemeinnützige Organisation „Rave the Planet“ mit dem Ziel gegründet, sich dem Spirit und der Kultur der elektronischen Tanzmusik zu widmen und das Bewusstsein für wichtige kulturpolitische, soziale und ökologische Themen zu schärfen. Die Vision der Technokultur Bewegung in Berlin: In die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen zu werden.

Wie kommt es, dass ein Tanzereignis so viele Menschen mobilisiert, gemeinsam zu tanzen und damit eine Mission der politischen Demonstration, der Unterstützung von Kulturprojekten und dem Engagement für Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu werden?

Nachtrag

Am 8.7.2023 hat die Rave the Planet Parade unter dem Motto „Music is the Answer“ mit 300.000 Teilnehmenden in Berlin stattgefunden.

Am 17.8.2024 wurde die Parade unter dem Motto „Love is stronger“ mit 380.000 Menschen gefeiert.

2024 erfolgt die Aufnahme der „Technokultur in Berlin“ in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission.


Tanzwut damals und heute: Eine Gegenüberstellung

Die Meinungen über die Loveparade waren unterschiedlich, in meiner Umgebung wurde sie eher skeptisch betrachtet – vor allem bei denen, die der elektronischen Musik nichts abgewinnen konnten: Drogen, Tanzrausch, Ekstase und getanzte Sinnlichkeit waren verdächtig – bei denen die nicht mitgetanzt haben. Das Event hatte etwas Verführerisches/Sinnliches, Ansteckendes, es wirkte suspekt und verrucht.

Hier fällt mir auf, dass den Tänzen auf dem Brocken und in Thale ähnliche Attribute zugeschrieben werden: Drogen, Tanzrausch, sich hingeben (dem Teufel), Ekstase, Ansteckung, Verbot.

Gemeinsam ist den beiden Tanzerscheinungen auch das Auftreten als Massenphänomen in einer Zeit des Umbruchs, der Verunsicherung, der Bedrohung, des Umsturzes. Der Tanz als Mittel des Protests, als körperlich tänzerisches Mittels der Identifikation mit dem Eigenen, Bedeutenden; der kulturellen Identität.

Die Ursprünge vom Tanz um den Maibaum, die Walpurgisnacht und die Legenden um die „Hexentänze“ auf Thale und dem Brocken lassen sich historisch nicht nachweisen. Es sind mündliche Überlieferungen, die sich, ihrer rituellen Bedeutung beraubt und der christlichen Moral angepasst, bis in die heutige Zeit gehalten haben und oft das einzige „Wissen“ über Tanz aus der vorchristlichen Zeit sind. Aus den oben genannten Quellen lässt sich ableiten, dass die Verteufelung des Tanzes und die Tanzverbote mit der Zeit der Christianisierung beginnen. Übriggeblieben aus dem vermutlich animistisch rituellen Tanz ist der Hinweis, dass er zu Ehren der germanischen Gottheiten Freya und Wotan getanzt wurde, die im Tanz die Winterdämonen vertrieben und den Frühling gezeugt haben.

Mit dem Etablieren des Christentums und den durch die Kirchen verhängten Tanzverboten in den kommenden Jahrhunderten, fehlen uns über 1000 Jahre Tanzgeschichte, die nicht durch die Kirche bewertet wurde.

„Ungottselige Tänze“ (Ausschnitt) Kirchweihfest Holzschnitt von Hans Sebald Beham 1539

Ich vermute, dass die Tanzenden von Thale, Kölbigk, vom Brocken und anderen Orten, trotz des kirchlichen Verbots nicht aufgegeben haben: Das Feststellen der „nachgewiesenen Tanzwut“ (siehe Tanzwut) u.a. in Kölbigk und Aachen, wo vor oder in Kirchen getanzt wurde, können meiner Meinung nach als Protest gegen die Tanzverbote und Einschränkungen gelesen werden. Es sind diese Verstöße, die das Vorkommen von Tanz aus dieser Zeit bis heute überliefern. Allerdings als Nachweis dafür, dass Tanzen die Verdammnis bringt und der Teufel den Tanzenden die Seele stiehlt. Entsprechend schwer waren die Strafen fürs Tanzen. Die Christianisierung z.B. der Sachsen durch die Franken und die Unterdrückung der „alten“ Gottheiten, war ein lang andauernder Prozess, der vieler Regeln bedurfte und noch mehr schwere Bestrafungen durch die Kirche hervorrief. Eine Zeit des Umbruchs und der Gewalt, vor allem gegen Frauen.


Tanzwut heute

Was war in den 1980er, 90-er Jahren los, die ein so starkes Tanzereignis wie die Loveparade hervorbrachten, das als weltweit größte Jugenddemonstration in die Geschichte eingeht? Zusammen mit dem Entstehen von Techno, einer völlig neuen Musikrichtung, die zu einer neuen kulturellen Identifikation junger Menschen führt…….

Hier eine Auswahl (Quelle) von schwerwiegenden Ereignissen, die mich in dieser Zeit sehr belastet haben.

1980: Einmarsch der Russen in Afghanistan

1980: Der erste Golfkrieg zwischen Irak und Iran (bis 1988)

1980: Erste Anschläge von Rechtsextremisten auf Asylbewerberunterkünfte

1981: AIDS wird als Krankheit anerkannt

1982: Falklandkrieg

1983: Erste Chaostage in Berlin

1986: Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

1989: Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in China

1989: Fall der Mauer

1990: Wiedervereinigung Deutschlands

1991: Zweiter Golfkrieg

1991-95: Jugoslawienkrieg

1991: Zerfall der Sowjetunion

1993: Erster islamistischer Anschlag auf das World Trade Center

1999: Kosovokrieg

1999: Wladimir Putin wird Präsident Russlands

Techno wurzelt im Disco*- und House-Sound der frühen 1970er und 80er Jahre und hat sich als Überbegriff von verschiedenen Spielarten elektronischer Tanzmusik etabliert, zu der ausgelassen getanzt wurde. Eine elektronische Basslinie mit Beats der Gruppe Kraftwerk und einigen minimalen Melodiearrangements kombiniert, führen zu der Musik der Zukunft. DJ und Schallplatte sind der Motor der neuen Clubkultur. Quelle  


Acid House

Das Acid Smily wurde Synonym für die Acid House Bewegung.

Für die ursprünglich als Psychedelic Rock bekannte Musik wird häufig der Begriff Acid Rock verwendet, später entwickelt sich die Richtung Acid House. Acid ist das Slangwort für die Droge LSD, die viele mit der Musik verbinden, was so eigentlich nicht gemeint war. Die Musik und der Tanzstil House kommen aus Amerika über England nach Deutschland. In England werden exzessive Acid House Partys gefeiert, die wegen häufiger Drogenexzesse verboten werden (Tanzverbot) – Illegale Acid House Partys werden in ganz Europa organisiert.

Ein Bericht von Deutschlandfunk Kultur vom 5. Dezember 2023: Tanzen im Verborgenen – ein Fotobuch über illegale Ravekulturen

Aus der ursprünglichen Loveparade mit dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ wird nach ca. 30 Jahren mit „Rave the Planet“ eine gemeinnützige Bewegung, die sich für wichtige kulturpolitische, soziale und ökologische Themen einsetzt mit der Vision, als Technokultur Bewegung Berlin in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen zu werden.

Aus der Clubkultur Acid House hat sich ungefähr in der gleichen Zeitspanne House Dance als ein künstlerisch zeitgenössischer Tanzstil entwickelt, der zum Beispiel von der saarländischen Tänzerin Hannah Chandra Mahler durch intensiven Austausch mit internationalen House Stars aus Südkorea, vor allem in den Niederlanden und Deutschland bekannt gemacht wird. Hannah hat urbanen Tanz an der Fontys Universität Tilburg studiert, und lässt in ihre eigene Zeitgenössisch-Urbane Tanzausbildung House einfließen. Sie generiert dadurch einen eigenen, sehr persönlichen Stil.

Was wurde aus den Tänzen von Thale und dem Brocken in über 2000 Jahren? Das, was Du darüber weißt …..

Andere Massentanzphänomene: Shanghais Voguing Community tanzt im Verborgenen

Zum Thema Voguing gibt es auf meinem Padlet unter Tanzdokus, Reportagen einen Bericht im Rahmen von Dance! mit Sylvia Camarda

* Disco: Aktuell gibt es einen Bericht im Arte Magazin 02/24: Disco – Aufstand der Tanzenden, und eine 3-teilige Dokureihe, die vom 2.2. – 2.3. auf meinem Padlet unter BaumRaum verfügbar ist.

Dazwischen – Ein Einschub: Tanz als Kulturerbe der Menschheit

Die Beschäftigung mit der Frage „Warum um den Baum tanzen?“ bringt mich immer stärker zu der Frage nach der eigentlichen Kraft von Tanz. Sie muss ein ursprünglicher, urmenschlicher Instinkt, eine grundlegend künstlerische Ausdrucksform sein. Nach diesem Instinkt suche ich, möchte ihn in Worte fassen und noch viel mehr: Ich möchte ihn im Tanz um den Baum sehen.

Corinna Clack, Improvisation im BaumRaum, Junges Tanztheater Corinna Clack

Durch mein intuitives Vorgehen in dieser Frage zeichnet sich nun ein Weg ab, dem ich weiter folgen werde: Tanz und Natur gleichberechtigt in Beziehung zu bringen, wobei ich im Tanz nach „naturinspirierten“ Bewegungsansätzen suchen und den Baum als ursprüngliches Symbol der Naturverehrung verstehen will. Für den Moment folge ich noch den überlieferten Massentanzphänomenen die sich als exzessiv und so beeindruckend gezeigt haben, dass sie die Jahrhunderte zumindest als Information überdauert haben.  Sie sind auch in der Jetztzeit präsent, wie die Discowelle, Acid House und die Loveparade und Technobewegung in meinen Texten Tanzwut und Tanzwut 2.0 verdeutlichen. In ihnen spüre ich diesen Instinkt, um mit den Gegebenheiten der Zeit besser fertigzuwerden, sich in einer sich verändernden Welt zurechtzufinden, Identitäten und Zusammengehörigkeit zu formen.

Wenn ich unsere heutige Zeit betrachte, bekommt sie mit dem Begriff „Zeitenwende“ ein erschreckendes Fanal des Umbruchs, einer beängstigenden Veränderung. Wir haben uns von der Natur entfernt und voneinander entfremdet mit weltweit spürbaren Konsequenzen. Plötzlich bekommt meine Frage nach der Urkraft des Tanzes eine neue und sehr aktuelle Bedeutung. Denn Tanz als Gemeinschaft und kulturelle Identität stiftende Ausdrucksform hat in allen Erscheinungsformen die Kraft, mit der wir uns auf veränderte Lebensumstände besser einlassen können. Sie bringt uns stärker mit uns und anderen in Kontakt.  Tanz ist ein Medium der nonverbalen Kommunikation, das Fremdheit überwinden und uns in Einklang mit der Natur bringen kann. Alles Faktoren, die hilfreich sein könnten – denn Tanz erzeugt Resilienz.

Dies lässt sich mit einem ersten Blick auf den Tanz als Anthropologie, also dem Wissen über den Menschen, nachvollziehen.

Tanz wird durch die UNESCO als immaterielles Kulturerbe eingestuft. Er ist ein Kulturerbe der Menschheit, das praktisch, nicht sprachlich überliefert wird, und deshalb so schwer zu fassen ist. Tanz und Tänze entstehen aus der Bewegung des Körpers in Raum und Zeit, meist im Zusammenspiel mit Klängen, nicht aus Sprache. Tanz hat synästhetische Wirkung. Das heißt, beim Tanzen entstehen Wahrnehmungskombinationen. Sinneswahrnehmungen, die normalerweise getrennt voneinander auftreten, sind beim Tanzen auf unerwartete Weise aneinandergekoppelt. Tanz umfasst also unsere verschiedenen Sinne als ganzkörperliche Wahrnehmung und ist bedeutend für die Wirkung von Tanz. Synästhesie und Performativität (Sehen und Zeigen) des Tanzes sind für die Bildung von Gemeinschaften zentral. Sie schaffen bei Menschen, die gemeinsam tanzen, eine emotionale und soziale Gemeinsamkeit, aus der Gemeinschaften entstehen können.

Quellen: Brandstetter, Wulf Hrsg., Tanz als Anthropologie, München, Wilhelm Fink Verlag, 2007, Seite 122 – 124. Sibylle Dahms (Hg), Tanz‚Kassel; Basel; London; New York; Prag, Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, 2001.

Uns fehlen über 1000 Jahre Tanzgeschichte

Uns fehlen über 1000 Jahre Tanzgeschichte

Von der Frühzeit bis in die Renaissance – Eine Tanzspurensuche
von Seraina Stoffel und Dr. Barbara Neumeier

Während meiner Recherche Förderung für „Warum um den Baum tanzen?“  hat mich die Musikwissenschaftlerin Dr. Barbara Neumeier eingeladen, mit ihr gemeinsam auf Spurensuche zu gehen. So untersuche ich die Frühzeit und Antike und Barbara die Zeit ab der Christianisierung bis um 1400.

Mit geht es vor allem darum, eine Vorstellung davon zu haben, wie, wann und mit welcher Absicht in vorchristlicher Zeit getanzt wurde, welche Bedeutung der Tanz im täglichen Leben der Menschen hatte. Die Zeit ab der Christianisierung bis zum Beginn der Renaissance untersucht Barbara aus dem Blickwinkel der Musik – anhand der Musikinstrumente, die zum Tanz aufgespielt haben.

Beide untersuchen wir mit besonderer Berücksichtigung des Aspektes des „um den Baum tanzen“.


Tanzbezogene Aufzeichnungen werden erst mit dem Übergang vom Mittelalter zur Renaissance gemacht. Wobei die Schwierigkeit, Bewegung in Zeit und Raum schriftlich zu fixieren dazu führt, dass es kaum lesbare und verständliche Notationen oder Tanzbeschreibungen aus der Zeit vor 1100 gibt.  Erst ab dem 15. Jahrhundert werden Tanzlehrbücher und Traktate verfasst.

Um etwas Licht in diese tanzfeindliche Zeit zu bringen,haben wir uns gemeinsam auf Spurensuche gemacht.

Ausgangsthema war die Frage „Warum um den Baum tanzen?“. Eine Erscheinung, deren Ursprung wir klar in der vorchristlichen Zeit ansiedeln. Die naheliegendste und einzige Assoziation heute auf diese Frage ist „Der Tanz um den Maibaum“. Um eine Verbindung aus der Frühzeit zu den dokumentierten Tänzen um Baum und Pfahl ab dem 14 Jh. bis heute, siehe meinen Reisebericht über die Reise zu den Tanzlinden, herzustellen, untersuche ich die Frühzeit und Antike und Barbara die Zeit ab der Christianisierung bis um 1400.

Mit geht es vor allem darum, eine Vorstellung davon zu haben, wie, wann und mit welcher Absicht in vorchristlicher Zeit getanzt wurde, welche Bedeutung der Tanz im täglichen Leben der Menschen hatte. Die Zeit ab der Christianisierung bis zum Beginn der Renaissance untersucht Barbara Neumeier aus dem Blickwinkel der Musik – anhand der Musikinstrumente, die zum Tanz aufgespielt haben.

Ich möchte mir vorstellen können, was NICHT MEHR stattgefunden hat in der Zeit, als das Christentum die alten Tanzbräuche unterdrückt und verboten und im besten Fall durch entwurzelte, sinnentfremdete, oberflächliche und beliebige Tänze ersetzt hat.

Ausgegangen bin ich von „Eine Weltgeschichte des Tanzes“ von Curt Sachs, die 1984 erschienen ist und ein unglaublich umfassendes Wissen über Tanzbräuche, ihre Anlässe und Bedeutung weltweit enthält. Tief beeindruckt bin ich von der Bedeutung von Tanz in allen Bereichen des menschlichen Lebens, in ähnlicher Weise, weltweit.

Tanz hatte in den Zeiten der frühesten Menschheit und Kulturbildung die Aufgabe als Fruchtbarkeitstanz für Nahrung und Leben zu bitten, die Götter anzurufen und Magie hervorzurufen.

Spuren der Tänze der Frühzeit und der Antike finden sich in allen Erdteilen in Höhlen, als Figurinen, Abbildungen z.B. auf Vasen und Fresken, als orale Überlieferungen und selten in geschriebener Form. Ich habe ich mich mit verschiedenen Tanzformen in frühen Kulturen beschäftigt, vor allem mit getanzten Kreisformen, die der Ursprung v.a. ritueller Tänze sind. Und da vor allem mit dem Umtanzen von Pfählen und Bäumen.

Verschiedene Hinweise bei Curt Sachs habe ich im Internet vertieft, zum Beispiel die Erwähnung von Kreisspuren von menschlichen Fersen in der Höhle Tuc d’Audoubert (CS S. 57), die vor 17 000 Jahren, wahrscheinlich während einem Übergangsritual/Fruchtbarkeitsritual entstanden sind. Aus dem Kreis sind Abgänge zu Phallen und zu kopulierenden Bisons erkennbar.

Weitere Erwähnungen, mit heutigen tanzforschenden Methoden untersucht, habe ich bei „Tanz“ gefunden, herausgegeben von Sybille Dahms. Und natürlich im Internet.

Frühzeit

Kreistanz

Nach Sachs ist die älteste Tanzform der Kreistanz. Im Kreis tanzen bis heute alle Völker dieser Erde. Etwas zu umtanzen bedeutet, es in Besitz zu nehmen, sich einzuverleiben, zu fesseln und zu bannen: der Kopf eines getöteten Feindes wird seine Kraft an die Tanzenden abgeben, eine Krankheit wird gebannt, wenn der kranke Mensch umtanzt wird, in Initiationstänzen werden Heranwachsende in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen.

Im Kreis zu tanzen scheint das urmenschliche Bedürfnis zu sein, den „Raum zu durchmessen und zu gestalten“.

Der Kreis scheint das elementare Raumgefühl der frühen Kulturen zu sein. Denn als die Menschen die Höhlen verließen und anfingen Hütten zu bauen, schufen sie Rundhütten. In ein in die Erde gegrabenes Loch wurde ein Pfosten gesetzt, darum herum Äste in den Boden gesteckt und oben mit dem Hauptpfosten verbunden. So wie die Hütten um die Grube und den Pfosten herum errichtet wurden, wird um Feuergrube oder Pfosten getanzt. Anfangs wurde allein getanzt, erst später mit Handfassungen.

Die (Feuer)Grube kann als Sinnbild für den gebärenden Mutterschoß gedeutet werden, der Pfosten/Tanzbaum als samenspendendes Fruchtbarkeitssymbol.

Die Kulturen, die den Rundbau aufgaben und eckige Behausungen bauten, lösten den Kreistanz in geradlinige Frontreigen auf. Bewegungsform und Bauform anzugleichen scheint eine starke innere Notwendigkeit zu sein.

Mit den ersten sesshaften Jägervölkern, der Hinwendung zu pflanzlicher Nahrung und Kleintieren, dem beginnenden Ackerbau und Siedlungsbildungen könnte die Vermutung naheliegen, dass sie auch die Tänze veränderten und sich den Gegebenheiten anpassten. So vermutet die „Völkerpsychologie Wilhelm Wundts“ eine Anlage zur Linie oder Reihe, wenn die Siedlung an einer Felskante angelegt war, einer Spirale, wenn man in Windungen von Flussläufen und Tälern heimisch wurde oder der Hinwendung zum Kreis und Symbolhaftem, wenn es um Kultstätten ging.


Curt Sachs unterscheidet bildfreie und bildhafte Tänze.

Hier fasse ich beispielhaft die Charakteristika zusammen, die für eine allgemeine Beschreibung von ursprünglichen, tänzerischen Ritualen stehen können. Selten sind ihre Ursprünge bis heute schemenhaft zu erahnen, manchmal nur in den Namen der Tänze.

Bildfreier Tanz

Jeder Tanz ist Ekstase – er ist das Medium, um mit dem Übermenschlichen in Kontakt zu treten. Das war besonders wichtig für die Menschen der Frühzeit, für die Gedeih und Verderb von guten oder bösen Geistern und Mächten abhängig war, die besänftigt oder wohlwollend gestimmt werden mussten.

Der bildfreie Tanz wird in den meisten Fällen im Kreis getanzt. Der Mittelpunkt kann frei sein, oder es befindet sich ein Mensch oder ein Gegenstand im Zentrum, dessen Kraft auf die Tanzenden ausstrahlt, oder umgekehrt von den Tanzenden ausgeht.

Fruchtbarkeitstänze finden weltweit um geschmückte Pfosten oder lebendige Bäume statt, die als geheiligtes Fruchtbarkeitszentrum umtanzt werden. Nach Sachs werden die Tanzenden zu „Träger der Wachstumskraft“ – die menschliche Fruchtbarkeit ist der Kern der Vegetationsriten. So ist der Geschlechtsakt als ein natürlicher Aspekt in den Tanz einbezogen. Ob er vollzogen wird oder nicht, ob es ein Werbetanz oder eine symbolische Vereinigung ist, bleibt regional, zeitlich und im sozialen Kontext unterschiedlich.

Der Appenzeller Hierig und der Tanz der Liebe gelten als als Beispiele für überlieferte und noch heute getanzte Werbetänze.

Medizintänze sind ausdrücklich mit der Kreisform verbunden. Schamanen, Heiler steigern sich darauf in ekstatische Zustände, um Heilung herbeizuführen.

Jugendweihetänze dienen der Abwehr von Dämonen, die den Übergang ins Erwachsenenalter bedrohen könnten. Sie sollen auch die Geschlechtsreife gut herbeiführen, um dem Stamm gesunden Nachwuchs zu schenken.

Auch bei Hochzeitstänzen gilt es, mögliche Gefahren, die den Übergang in das Eheleben bedrohen könnten, zu bannen.  Natürlich geht es um einen Kraft- und Fruchtbarkeitszauber, und das einander Umtanzen ist das Wesentliche dabei.

Bildfreie Totentänze sind fast immer Kreistänze mit Mittelpunkt. Dabei ist der Hauptgedanke, die Verbindung zwischen Lebenden und Toten herzustellen, und den Toten das „Eingehen zu den Vorfahren zu ermöglichen“. (CS S. 52) In den Kriegstänzen geht es um die Übertragung von Kraft, z.B. durch das Umtanzen des Häuptlings. Im bildfreien Tanz werden keine Waffen eingesetzt. Er kann auch stellvertretend von Mädchen und Frauen getanzt werden. 

Bildhafter Tanz

Der bildhafte Tanz unterscheidet sich in der pantomimischen Darstellung des Vorgestellten: Die Vorstellung wird zu Darstellung.

Überwiegend sind es Tiertänze, in denen das Tier möglichst erkennbar tänzerisch im zelebrierten Ritus dargestellt wird. Hier verweise ich als Beispiel auf das eingangs erwähnte Initiationsritual vor 17 000 Jahren in den Höhlen von Tuc d’Audubert, wo die Fersenspuren auf ein Relief von zwei kopulierenden Bisons aus dem Kreis herausführen.

Bildhafte Tänze können in allen oben genannten Ritualen erscheinen.


Antike

Ägypten

Die Überlieferung und Analyse bezieht sich hauptsächlich auf Reliefs, Wandmalereien, Hieroglyphen auf Papyrus und weist darauf hin, dass Tanz in allen Bereichen ein „fest integrierter Kulturbestand“ war, bei dem vor allem Frauen tanzen.

Wandmalerei aus dem Grab von Nebamun, Ägypten, 18th Jh. v.Chr

Der Totenkult war stark ausgeprägt, mit bewegungsreichen Totentänzen.

Kennzeichnend ist hier die strenge Regelung von Bewegung, Kleidung und Haartracht der Tänzerinnen, die den Charakter der staatlichen Ordnung, die kultische Einbettung in offizielle Abläufe spiegeln (ca. 3.- 2. Jahrtausend v. Chr.)

Griechenland

Der antike griechische Tanz ist elementarer Teil aller Lebensbereiche und findet vor allem in Reigenform mit Gesang statt. Es entwickeln sich mimische und gestische Elemente, die Tanzbewegung differenziert sich weiter aus und erweitert seine bildfreie Ausdrucksfähigkeit mit darstellenden Möglichkeiten.

Durch Frühling und Vegetation werden in der griechischen Antike Bräuche mit Festen und Tänzen gefeiert, die Ausgelassenheit verkörpern, zum Beispiel in Form von Phallustänzen u.a.. Sirenen, Satyre und Faune, Nymphen und Mänaden versammeln sich um Thyrsos, einem Stock oder Stab, der oft mit Bändern, Weinlaub oder Efeu umwunden dargestellt wird.

Die Etrusker

 
Das antike Volk der Etrusker ist in Mittelitalien zwischen dem 800 v. Chr. und der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. nachweisbar. Die etruskische Kultur zeugt von einem tanzfreudigen und festlichen Gesellschaftsleben, das sich in Gemälden an Grabstätten beispielsweise finden lässt.

Tänzer und Musikanten, etruskisches Fresko, Grab der Leoparden (Tomba dei Leopardi), Monterozzi-Nekropole bei Tarquinia / Viterbo / Italien, ca. 470–450 v. Chr.

Rom

Dies findet sich in der römischen Gesellschaft nicht wieder: Durch die Loslösung von der griechischen „Einheit aus Vokal- und Instrumentalmusik, Sprache, Rhythmus und (Reigen-)Tanz“ verliert der Tanz seinen Wert und sein gesellschaftliches Ansehen. Die Darstellung von derben und zotigen Inhalten durch mimische und pantomimische Aufführungen ist beliebt und lässt generelle Vorbehalte gegen den Tanz wachsen. 

Tanz gilt als unschicklich, man lässt jedoch zu Feierlichkeiten griechische, asiatische und andalusische Tänzer kommen.

Am Ende des römischen Imperiums finden sich bei Christen und Heiden Tänze, die liturgisch-kultischen Charakter haben. In der Kirche werden die Gattungen des liturgischen Tanzes entwickelt. Zunächst gilt Tanz als „vornehmste Beschäftigung der Engel“ und ist durch den „vor der Bundeslade tanzenden König David“ legitimiert. Mit Beginn des Mittelalters verbieten die Kirchenväter um 400 den Tanz, da man in ihm Teuflisches vermutet.


Von der Christianisierung bis ins Spätmittelalter

Sakraler Tanz

Mit der zunehmend tanzfeindlichen Einstellung des Klerus werden erst wieder im 11. bis 13. Jh. Tänze im kirchlichen Raum dokumentiert. Labyrinth Tänze werden von Klerikern im Kirchenraum ausgeführt. Entsprechende Markierungen von Tanzwegen finden sich heute noch auf den Böden der Kathedralen von Reimes und Auxerre. Die Schreittänze können als Umdeutung der antiken Mythen verstanden oder als Schreiten vom Dunkel ins Licht gedeutet werden.

Labyrinth in der Kathedrale von Reims

Relikte dieser Kirchentänze werden heute von Knaben zur Osterzeit in den Kathedralen von Sevilla oder Toledo aufgeführt oder finden sich im katalanischen Männertanz Contrapas.

Profaner Tanz

Den vorchristlichen Fruchtbarkeitsriten folgend wurde vor allem im Frühjahr draußen um die Dorflinde, die Tanzlinde oder um den Dorfbrunnen getanzt. Später in Tanzhöfen und ab dem 14 Jh. in Tanzhäusern.

Tanzverbote wurden während der Fasten- und Adventszeit verhängt.

Der Tanz der höheren Gesellschaft fand, als höfischer Tanz, vor allem in Räumen statt, mit schleifenden, am Boden haftenden Schritten. Eine gelegentliche Mischung mit den bäuerlichen Tänzen fand über das fahrende Volk, über Spielleute, Gaukler und Jongleure statt.

Tanzwut

Im 14. Und 15 Jh. ereigneten sich Ausbrüche von Massenhysterie, die als Tanzekstase ganze Bevölkerungsgruppen erfassten. Vergleiche dazu auch meinen Bericht über Tanzwut auf der Seite Recherche. Bei Sybille Dahms wird auf vorchristliche Bräuche verwiesen, die, als ursprüngliche Heilstänze, sich durch die kirchlichen Tanzverbote und die herrschende Todesangst vor der ausgebrochene Pestepidemie, in Tanzwut und Hysterie entladen.

Quellen

Quellen: Sibylle Dahms (Hg), Tanz, Kassel; Basel; London; New York; Prag – Bärenreiter ; Stuttgart; Weimar, Metzler 2001

Curt Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, Hildesheim; Zürich; New York, Georg Olms Verlag 1984


Organologie : Das Musikinstrument als Quelle

Schließlich vermischen sich im frühen Mittelalter religiöse Praktiken verschiedener Kulturen. Dabei entsteht das „um etwas“ herum tanzen noch einmal ganz explizit: das Feuer, den Herd, Kultstätten oder den Baum.

Quelle

Kurt Peters, Günter Noll et al.: Tanzgeschichte in vier kurzgefassten Kompendien, Wilhelmshaven 1991(= Leitfaden für Tanzpädagogen, Band 1, hrsg. von der deutschen Akademie des Tanzes beim deutschen Tanzarchiv Köln).

Mittelalter

Die untrennbare Verbindung zwischen Musik und Tanz findet sich, seit es Tanz gibt. Sei es durch rhythmisches Stampfen, Klatschen, Klappern oder kleine Percussionsinstrumente wie Trommeln, Glöckchen oder Rasseln, die Tänzer untermalten ihre Bewegungen mit Klängen – oder es gab spezielle Ensembles oder einzelne Musiker, die zum Tanz aufspielten. Tanz erhält in unterschiedlichen Kontexten eine Art Gesamtkultur, ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Bewegung, Dichtung und Stätte.

Die Situationen, Quellenlagen und Kontexte gestalten sich vielschichtig.

So soll hier einmal der Versuch unternommen werden, nach Situationen bzw. Kontexten von Tanzaufführung und Quellen zu differenzieren – unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes des „um den Baum tanzen“. Bezüglich der Quellen kann man zwischen literarischen Quellen, organologischen, auf Musikinstrumente bezogene Quellen, und ikonografischen Quellen unterscheiden.

Literarisch gibt es einerseits poetische Texte, die in – teilweise allegorischer Form – Dinge beschreiben, die über das Leben berichten. Andererseits gibt es Akten, wie etwa Stadtchroniken oder Rechnungsbücher, die über Anstellungen und Bezahlungen, etwa von Musikern oder Tänzern Aufschluss geben.

Die Organologie hängt mit der Ikonografie zusammen: ikonographische Quellen finden sich in aller Art von Bildquellen und Abbildungen von Instrumenten oder Tanz- und Musiziersituationen: in Gemälden, Buchmalereien, Fresken, frühen Zeugnissen auch in Höhlenmalereien, Wandteppichen. Die Darstellung von Musikinstrumenten muss dabei sorgfältig untersucht werden: einerseits liefern Bildquellen Zeugnisse, wie Instrumente gebaut wurden oder ab wann man bestimmte Instrumente findet, andererseits kann es aber auch immer sein, dass der Maler künstlerische Freiheit über originalgetreue Kopie eines echten Musikinstrumentes stellt. Funde von Instrumenten, die nun in Museen aufbewahrt sind, können indirekt auch Aufschlüsse in Bezug auf Tanz- und Musiziersituationen liefern, so dass man weiß, wie die klanglichen Möglichkeiten oder Kombinationen waren.

Diese Quellen sind immer künstlerisches Abbild einer bestimmten Zeit und damit auch verbunden auch mit subjektiven Empfindungen oder Erwartungen, dies sollte bei einer Interpretation stets im Blick behalten werden.

Im Mittelalter findet sich nicht vor dem 11. Jahrhundert das Verb „tanzen“, die Begriffe, die im weitesten Sinne für Tanz verwendet werden sind „saltare“ oder „ballare“. In ihrer Erscheinungsform finden sich Tänze als Kette, in geschlossener Kreisform oder offener Linienführung, Frontalreigen, die meist von einem Spielmann angeleitet wurden.

Mittelalterlicher Tanz ist neben Musik, Literatur und bildender Kunst Teil von Kunst, dabei kann Tanz wie auch die anderen Kunstformen unterschiedliche Funktionen übernehmen: als Ausdruck von Religiosität oder als Unterhaltung.

Im Sinne einer Kunst als Unterhaltung wird Tanz von fahrenden Spielleuten ausgeführt, die man auf Jahrmärkten, in Städten, zu Festen, Hochzeiten oder am Hofe engagiert. Als nicht Sesshafte genießen sie keinen Schutz und stehen am Rande der Gesellschaft.

Spielleute, vielleicht 15. Jh.

So schreibt Conrad de Mure in seiner „Summa de arte prosandi“:

„Pauperes, debiles, ceci, claudi, manci, loripedes vel alias corpore deformati, kalones, iucolatores, saltatores, fidicines, tibicines, lyricines, tubicines, cornicines, hytriones, gesticulatores, nebulones, parasiti umbre, mensivagi, …”

Tänzer (saltatores) werden als eine Gruppe genannt, die Spielleute werden nach Instrumenten (Zupfinstrumente, Pfeifer (wahrscheinlich Dudelsack und Schalmei (Pommer)) und Bläser (Trompeteninstrumente), Hörner (Vorläufer von Zinken, Tierhörner), Saiteninstrumente (Harfeninstrumente, Lyra) differenziert. Es bleibt zu vermuten, dass zu jeglicher Instrumentenkombination Tänzer Bewegungen ausgeführt haben.

Tanz als Teil des Dorflebens, des Alltags ist ein fester Bestandteil des Alltags. Der Tanz „um einen Baum“ stellt dabei wohl häufig den traditionellen Tanz der Bauern und des „einfachen“ Volkes dar. Instrumente wie Dudelsack und Schalmei, die eher das ländliche Ensemble zur Begleitung des Tanzes symbolisieren finden sich häufig auf ikonografischen Zeugnissen.
 

Ländlicher Weihnachtstanz um den Paradiesbaum, Miniatur aus dem Stundenbuch von Charles d‘ Angoulemes, 2. Hälfte des 15. Jh.

Dennoch gibt es auch Darstellungen, bei denen beim Tanz um den Baum eher höhere Schichten dargestellt werden. So kann man in folgender Abbildung eine eher „städtische Mittelschicht“ aufgrund der Kleider identifizieren:

Aus world4.info Der Garten der Renaissance in seiner künstlerischen Gestaltung.

Stich v. Sadeler. Hirths Kulturhist. Bilderbuch III8.

Im Mittelalter herrscht wie auch in den anderen Kunstformen die Dichotomie „sakral-profan“ vor. So hält der ursprüngliche Tanz auch in der Kirche Einzug, in Form von Ehrerbietungen, Prozessionen und Mysterienspiele. Doch schwingt dabei immer stärker (ausgehend beispielsweise von Augustinus-Dictum „Chorea est circulues cuius centrum est diabolus“) die Annahme mit, dass Tanz etwas Teuflisches enthält und somit in seinem Ausdruck wider Gottes Gesetzes stehe. Dennoch blieben Tanzelemente in Form der liturgischen Dramen und Mysterienspiele im kirchlichen Raum erhalten. Zeugnisse über sogenannte „Labyrinth-Tänze“ finden sich zwischen dem 11. Und 13. Jahrhundert in Fußbodenmarkierungen in Kirchen (z. B. in den Kathedralen von Reims und Auxerre), in Frankreich, Italien, Deutschland und England. Sie symbolisieren den Weg vom Dunkel ins Licht und stehen damit in Verbindung mit der Kreuzzugsthematik.

Labyrinth in der Kathedrale von Chartre: Tänze zu Ostern, Bilder und Text in französisch, ab Pratiques de Plein-Air et Labyrinthes d’églises

Im profanen Tanz finden sich Unterschiede, die aufgrund der Quellenbelege zu deuten sind: Spruchdichtung, Epik, Miniaturen, Fresken u.a.

Als Tanz der ländlichen Gesellschaft finden sich Reigentänze, die eher gesprungen sind, zu denen auch der Tanz um den Baum zählen kann. Dabei finden sich stärkere regionale Eigenentwicklungen als im höfischen Tanz.

Eine frühe Darstellung eines Reigentanzes aus dem 11. Jahrhundert findet sich in Brindisi

Quelle

vgl. M. Wackernagel: Die Plastik des XI. und XII. Jahrhunderts in Apulien (Kunstgeschichtliche Forschungen 2), Leipzig 1911, Tafel IV.).

Wie auch hier zu sehen findet sich bis in die Neuzeit hinein eher eine der Oberschicht vorbehaltene engschrittige wiegende Vor-und Rückwärtsbewegung als Variante und eine eher „bäuerliche“ gesprungene Variante. (vgl.  Machaut (le dancier ne le carolier)

Trojanerkrieg Konrad von Würzburg (13. Jahrhundert), Vers 28.206f. : „uf den füezen slifen und dar nach balde springen“, Westfälische Predigt 14. Jahrhundert: dansen, reyen und sprynghen)

Der „Tanz des Volkes“ ist Bestandteil des Jahreskreises, vor allem im Frühling finden viele Tänze im Freien statt – Plätze sind dabei der Dorfplatz, die Tanzlinde, um den Dorfbrunnen (ab dem 14. Jahrhundert auch in eigens dafür eingerichteten Tanzhäusern) – diese Tänze knüpfen an vorchristliche Fruchtbarkeitsriten an. Im Laufe des Kirchenjahres herrschen jedoch in bestimmten Zeiten, wie der Fasten- und Adventszeit strikte Tanzverbote. So bildete der Tanzplatz Raum für unterschiedliche Festlichkeiten: Kirchweih, Fastnacht, Einzug des Sommers, Hochzeiten.

Wenn es zu eng wurde aufgrund vieler Gäste wurde auf einen großen Platz einer Wiese ausgewichen. Für die Musiker wurden im Freien teilweise aus Holz Hochstände in Kopfhöhe der Tanzenden errichtet.

Der Tanz um den Baum herum zeugt in der Tradition der frühen Tänze „um etwas herum“, siehe oben. So ist der Baum einerseits Teil des zentralen Dorfplatzes, andererseits aber auch per se die Verehrung etwas Kultischem in Sinne einer Naturverbundenheit und der mystischen Kraft alter Bäume.

Neben den Opferriten an solitär stehenden Bäumen wie Buchen oder Linden waren die Plätze auch Ort der Gerichtsbarkeit und damit auch das Tanzen Teil von Gerichtssitzungen bzw. Tanz galt als etwas rechtspflegerisch Relevantes.

Bei Neidhart findet sich der Hinweis: „diu linde ist wol bevangen mit laube. Dar under tanzent vrouwen.“Auch der Ausspruch bei Tannhäuser „nu wol uf zer linden, ir kint also jungen, da wirt under kranze ze tanze gesungen“ lädt zum Tanze unter dem Baum ein.

Siehe auch meinen Beitrag:  Die Linde: Ein umtanzter und verehrter Baum


Tanzen im Sinne eines gesellschaftlichen Gebrauchstanzes, eines Zusammenschlusses, mehrerer Menschen anlässlich eines gemeinsamen Tanzen zu Musik und zu einem Anlass, bedarf – im Gegensatz zu dem späteren artifiziellen Paartanz  – keines Lehrmeisters. Man lernt usuell, unter der Aufsicht Gleichaltriger oder der Familien und Dorfgemeinschaft.

Die Bezeichnung eines „Tanzmeisters“, also einer Person, die Tänze anleitete, findet sich erst im ausgehenden Mittelalter. Im 14. Jahrhundert findet man in aktenkundlichen Vermerken immer wieder die Berufsbezeichnung des „magister corearum“, die mit der „ars saltatori“ einher geht. Bereits im 13. Jahrhundert finden sich – trotz des Tanzverbotes durch die Konfessionen – zahlreichen Hinweise auf „tanczmaister“, die als Vortänzer Reigen anführten und lange Ketten in Strukturen stützten. Bei Neidhart von Reuenthal findet sich auch der Begriff des „voresingers“.

Das verbindende Glied höfischer und dörflicher /städtischer Tanzkultur sind freilich die Spielleute. Als Reisende sind sie manchmal am Hofe zum Musik machen zu bestimmten Festen und Anlässen angestellt, aber auch zur Unterhaltung von Tänzen auf dem Dorfplatz zu hören. Durch ihre Mobilität überliefern sie auch Sitten, Musik und Gebräuche anderer Länder und Höfe und stellen daher eine wichtige Funktion des Kulturtransfers dar.

Dass es auch im Tanz zu einer Vermischung von Höfischem und Bäuerlichem kommen kann, lässt sich an den Dichtungen Neidharts von Reuenthal oder Ulrichs von Lichtenstein erkennen. (Beleg?)

Ruhr Uni Bochum

 Tanzentwicklung in Mittelalter und Renaissance

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Mein künstlerischer Schwerpunkt liegt auf der Tanzimprovisation und der Interaktion mit anderen Kunstformen. Mein Anliegen ist der Dialog mit Tanz durch künstlerische und pädagogische Projekte.