Reisetagebuch

Dieses Reisetagebuch beschreibt die Reisen, die ich in Sachen Bäume unternehme. Die eingefügten Links laden zur weiteren Lektüre durch öffentliche Websites ein. Im Bereich „Recherche“ gehe ich tiefer und ausführlicher in die (tanz)historische Bedeutung von Bäumen ein. Dies mit meiner Fragestellung „Warum um den Baum tanzen?“, nach dem ob, wie und warum um den Baum getanzt wurde. 


Reise zu den Tanzlinden

Reise im August 2023 zu den Tanzlinden in Oberfranken: Limmersdorf, Peesten, Langenstadt – Lindenmuseum Neudrossenfeld

Mittwoch:

Nach ca. 4-stündiger Fahrt kommen Achim Spohn und ich in Limmersdorf an. Achim ist mein Ehemann, er ist Grafik Designer und Fotograf, und wird diese Recherche-Reise fotografisch begleiten. Wir haben die Fahrräder dabei, denn auf der Homepage des Deutschen Tanzlindenmuseums ist eine Fahrrad-Rundtour beschrieben, auf der man alle drei noch in Oberfranken betanzten Linden besuchen kann. Das ist unser Plan.

Das kleine urige Dörfchen Limmersdorf ist ein Gemeindeteil des Marktes Thurnau und liegt zwischen Bamberg und Bayreuth. Es hat viel Medienpräsenz und Berühmtheit durch seine Tanzlinde und die Kirchweih bekommen. Die Tanzlinde steht auf dem malerischen Lindenplatz in der Mitte des Dorfes und ist nur zu Fuß erreichbar. Ein großer Vorteil für die Kirchweih, wie uns Herr Pöhlmann später erklären wird; keine Straßen müssen dafür gesperrt oder der Verkehr umgeleitet werden. Herr Veit Pöhlmann engagiert sich für die Förderung der Limmersdorfer Kirchweihtradition und ist Initiator für den Bau des Deutschen Tanzlindenmuseums Limmersdorf. Unsere heutige Verabredung ist auf Freitag verschoben worden.

Wir steigen über eine Holztreppe auf die Tanzplattform. Zum ersten Mal auf dem untersten Astkranz einer Linde auf einem hölzernen Tanzboden mit Brüstung zu stehen, dem alten Stamm in der Mitte und der Baumkrone über mir – mir ist ganz feierlich zu Mute. Später schauen wir uns die junge Linde an, die mit den Jahren die alte als Tanzlinde ablösen wird und nur wenige Meter von der alten entfernt gepflanzt wurde. Wir fahren weiter nach Thurnau, wo wir ein kleines Appartement neben dem Schloss am See gemietet haben.

Später beschließen wir, bei Herrn Pöhlmann in der Pöhlmann‘ schen Gastwirtschaft „Zur Realen Schenkgerechtigkeit“ (seit 1813) in Limmersdorf neben der Tanzlinde zu Abend zu essen. Verschiedene traditionelle oberfränkische Biere und Brotzeiten werden angeboten. Wir wählen 1x mit Käse und 1x mit Wurst und Dosenfleisch, eine lokale Spezialität. Dazu gibt‘s „Musikanten-Stammtisch mit awengla Werdshaus-Singa“ und Tanz in der Biergartenlaube.


Donnerstag:

Tanzlinden-Radrundweg: Peesten – Limmersdorf – Langenstadt (31 km). Der Radweg verbindet die drei von insgesamt sechs noch betanzten Tanzlinden in Oberfranken.

Wir starten in Thurnau um 10 Uhr mit unseren E-Bikes den Tanzlinden-Radrundweg in Richtung Peesten. Der Radwege ist sehr gut ausgebaut und führt uns durch eine sehr schöne ländliche Landschaft. Alles ist grün und viele Obstbäume säumen den Weg. Die Mirabellen sind bald reif, einige schmecken schon ganz süß. Um 11:30 Uhr kommen wir schon in Peesten an, um 14 Uhr sind wir mit Frau Dressel vom „Förderkreis Tanzlinde Peesten“ verabredet. Die Tanzlinde sieht aus wie ein riesiges grünes Baumhaus auf Säulen mit einem grünen Würfel auf dem Dach! Wir steigen die schön geschwungene Steintreppe zur Tanzplattform hoch. Es ist ein anderes Erlebnis als in Limmersdorf: die Plattform ist mit ca. 90 Quadratmeter größer und quadratisch, die Brüstung als Fachwerk über raumhoch, die Decke bildet ein weiterer geleiteter Astkranz. Die Äste der 1. und 2. Stufe werden am Fachwerk außen entlanggezogen und sind so beschnitten, dass der Eindruck von Laubwänden mit Fenstern entsteht.

Wir fahren zurück nach Kasendorf um dort etwas zu Mittag zu essen. Wir hatten uns vorgenommen in Peesten zu essen – leider gibt es dort keine Möglichkeit – in Kasendorf ist das Angebot allerdings auch sehr klein. Alle Lokale haben geschlossen. Nur eine Bäckerei, die um 12:30 Uhr schließt, und eine Metzgerei haben geöffnet. Nach einem trockenen Brötchen aus der Bäckerei für mich und einer Leberkäs-Semmel aus der Metzgerei für Achim, sind wir um 13 Uhr wieder in Peesten. Frau Helga Dressel, ihr Mann Siegfried, sowie drei junge Leute als Vertreter*innen der Kerwa- Jugend kommen zur Tanzlinde: Raphaela Meisel, Leonie Richter und Luca Lauterbach.

Frau Dressel, Vertreterin und Gründungsmitglied des „Förderkreis Tanzlinde Peesten“ und ihr Mann erzählen: Vermutlich wurde die Linde 1576 gepflanzt. Im Gemeindearchiv werden 1657 Ausgaben für den Bau des Lindengerüsts in der Gemeinderechnung erwähnt und 1773 wird der Auftrag erteilt, das Gerüst als Tanzsaal auszubauen. 1947 wird die zerfallende Lindenanlage abgerissen, die abgestorbene Linde gefällt. Nur die Treppe und die Säulen bleiben stehen. 1951 wird eine neue Linde gepflanzt und der Förderkreis 1999 mit dem Ziel gegründet, die Holzkonstruktion der Tanzlinde zum 50-jährigen Pflanzjubiläum wieder zu errichten. Die Rekonstruktion der alten Lindenanlage erfolgt über intensive Eigeninitiative des Förderkreises und des Planungsingenieurs Volker Lauterbach, dessen Sohn Luca heute mit uns unter der Linde sitzt. Das Institut für Baugeschichte und Denkmalpflege der Universität Innsbruck trägt mit Fachwissen wesentlich zum Wiederaufbau bei. Der wird 2001 fertiggestellt, das Richtfest am 12. Mai 2001 mit Tanz auf der Linde gefeiert. Die „Tanzbruck“ ist witterungsabhängig ungefähr von April bis Oktober zugänglich. Die aktive Kerwa-Jugend, bestehend in diesem Jahr aus 12 Tanzpaaren, ist sehr am Erhalt und der Pflege der Tanztradition auf der Linde interessiert. Sie sind für den Tanz während der Kirchweih verantwortlich, während alle Peestener Vereine die Festlichkeit organisieren. Sie sind stark miteinander verbunden.

Die drei anwesenden Vertreter*innen erzählen uns stolz und begeistert von ihren Tänzen. Auch von ihren Reisen zu anderen Tanzlinden berichten sie, wo sie schon Mal tänzerisch aushelfen. Damit sie uns mit 2 Tanzpaaren einen „Hopperer“ auf der Plattform zeigen können, rufen sie spontan einen weiteren jungen Mann an: Max Kutzer kommt sofort gut gelaunt in Turnhose und Schlappen vorbei und bringt einen Lautsprecher mit. Die anderen Jugendlichen haben sich für unser Treffen mit schwarzen Hosen und ihren Tanzlinden T-Shirts fein gemacht. Luca Lauterbach trägt eine elegante Lederhose. Sie werfen die Musik an und fegen mit dem „Hopperer“ um den Baum. Wir sind beeindruckt von der großen Begeisterung für die Pflege des Brauchtums, vom Stolz auf ihre Tanzlinde und das Interesse an dieser Tradition. Herr Dressel meint später, dass die meisten jungen Leute in der Gegend bleiben – nicht abwandern – sondern hier ihre Familien gründen und sich in die Gemeinschaft einbringen. Wir fahren weiter nach Langenstadt, wo die 3. Tanzlinde steht. 

Sie ist in Privatbesitz und steht direkt neben dem Dorfwirtshaus Zur Linde. Sie ist kleiner als die beiden anderen. Eine Zugangsbrücke am Ende einer Treppe führt auf die Plattform. Der Baum ist noch jung, wurde 1989 nachgepflanzt, nachdem die alte Linde bei einem Sturm im selben Jahr, wegen Astbruch gefällt werden musste. Seit 2010 wird wieder auf ihr während der Kirchweih getanzt.

Endlich etwas zu essen: Wir kehren im Wirtshaus ein. Die Mahlzeiten sind deftig, auch das Vegetarische, aber sie sind ausreichend für den Rest des Tages.

Wir kürzen ab und fahren direkt nach Thurnau, da wir am nächsten Tag auf der Limmersdorfer Tanzlinde mit Herr Pöhlmann verabredet sind.

Herr Veit Pöhlmann kommt pünktlich und ich führe das Interview mit ihm auf der Tanzlinde. Er ist Experte in Sachen Tanzlinden und hat für die Limmersdorfer Kirchweih den Eintrag in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes erreicht.

Der Baum, eine Sommerlinde, ist ein Naturdenkmal und wurde vermutlich 1686 gepflanzt. Sie ist die älteste der oberfränkischen Tanzlinden: 18 m hoch mit einem Stammumfang von 4 m und einer Krone mit einem Durchmesser von ca. 13 m. Die Tanzfläche und das Musikantenhäuschen ruhen in 3 m Höhe auf 8 Sandsteinsäulen. Die „Tanzbruck“ wird nur zur Kirchweih mit Holzplanken belegt und ist nur in dieser Zeit durch eine Stiege erreichbar. Anders als in Peesten ist hier die Kerwa-Jugend, vier Paare in jedem Jahr, für die gesamte Organisation der Kirchweih und den Tanz verantwortlich. Nur bei der Limmersdorfer Tanzlinde kann auf und unter der „Bruck“ getanzt werden.

Der Lindenplatz ist ein idealer Ort für die Limmersdorfer Kirchweih. Hier wurde bereits eine junge Sommerlinde als Nachfolgerin gepflanzt. Der unterste Astkranz ist bereits geleitet, so können in naher Zukunft die Säulen und das Gerüst um die Äste herum aufgebaut werden. Die „Tanzbruck“ liegt nicht auf den Ästen, sie liegt auf den Säulen und der von Zimmerleuten erbauten Tragekonstruktion. Die Säulen werden hier aus Holz sein. Herr Pöhlmann erzählt vom Deutschen Tanzlindenmuseum, das auf dem Lindenplatz entstehen wird. Dafür wurden unter anderem maßstabgetreue Modelle der Limmersdorfer Linde und der „Tanzbruck“ erstellt.

In Peesten haben wir von dem Lindenbaum Museum in Neudrossenfeld erfahren und beschließen, es nach unserem Besuch in Limmersdorf zu besuchen. Es ist Mittag, als wir in Neudrossenfeld ankommen – wir haben Hunger. Wieder sind alle Wirtschaften geschlossen, wieder nur eine geöffnete Bäckerei und eine Metzgerei. Die Bäckerei hat glücklicherweise belegte Brötchen, Kaffee und Kuchen – damit kommen wir zurecht. Das Museum ist nicht besetzt, es gibt einen Türöffner an der Seite. In der unteren Etage findet sich Historisches, mit einem Filmausschnitt aus den „Meistersinger“ von Richard Wagner. Die Limmersdorfer Tanzlinde ist darin zentrales Bühnenelement einer Szene. Im oberen Stock sind Modelle und Beschreibungen aller bekannten Tanz- und geleiteten Linden ausgestellt. Ein wichtiger Initiator dieses Museums ist der ehemalige Universitätsprofessor Dr. Rainer Gräfe vom Institut für Baugeschichte und Denkmalpflege der Universität Innsbruck, der mit seinen Studierenden die Modelle im Maßstab 1:20 hergestellt hat. Dr. Gräfe, ein Linden-Begeisterter, hat auch beim Wiederaufbau der Peestener Tanzlinde mitgewirkt.

Neudrossenfeld hat keine vollständige Tanzlinde, es sind nur Säulenfragmente unter einer großen Sommerlinde übriggeblieben. Ein Argument der Kritik daran, warum das Museum in Neudrossenfeld und nicht in Limmersdorf gebaut wurde. Auf dem Rückweg nach Hause übernachten wir in Bamberg, das Abendessen nehmen wir in der historischen Brauerei Spezial ein. Es ist wieder deftig, die Speisekarte Fleisch lastig. Es gibt jedoch mehrere vegetarische Angebote, die mir ganz gut schmecken. Auf dem Bierdeckel lese ich: „Bier aus kontrolliert biologischen und regionalen Zutaten, Herstellung durch regenerative Energie und Strom aus der eigenen Photovoltaikanlage und Blockheizkraftwerk.“ Die Tradition entwickelt sich umweltfreundlich und regenerativ weiter. Das gefällt mir!

Unsere Reise zu den Tanzlinden endet hier. Es ist eine sehr gute Art und Weise, die Bäume und ihre Menschen über die schönen Fahrradwege und durch eigene Muskelkraft kennenzulernen. Wir sind in die lebendige Tradition der Tanzlinden eingetaucht und sind von den engagierten und hochmotovierten Menschen begeistert! Tanz verbindet Menschen – unabhängig von Tanzrichtung oder Stil – diese tiefe Erkenntnis zeigt sich auch hier. 

Doch der Antwort auf meine Frage, „Warum um den Baum tanzen“ bin ich nicht nähergekommen. Keine*r meiner Gesprächspartner*innen konnte mir eine Antwort darauf geben, warum der Tanz auf die Linde kam. Eine Erkenntnis gibt es bereits für mich: Es sind z.T. alte, vor allem aber bekannte Folklore-Tänze, die auf den Tanzlinden getanzt werden. Unter meinem Baum, in meinem TanzRaum, werde ich Tänze entstehen lassen, die durch den Baum und die Zeit inspiriert sein werden. Das Sachbuch von Rainer Graefe „Bauten aus lebenden Bäumen – Geleitete Tanz- und Gerichtslinden“ habe ich online bestellt. Ich hoffe, dass es mich einer Antwort näherbringen wird.


Reise zum Internationalen Baumarchiv, zu nicht vorhandenen Tanzbäumen und Götterwohnungen in Bäumen

Reisetagebuch über eine Fahrt in die Schweiz vom 21.- 23.3.2024

Donnerstag

Ich reise mit dem Auto nach Uster zu Annina, meiner Freundin seit dem Kindergarten. Sie wird mich in den nächsten Tagen auf dieser Baumreise begleiten.

Anders als bei der Reise nach Oberfranken soll es diesmal auch eine kulinarisch interessante Reise werden. Deshalb hat Annina bei dem Sozialprojekt Traube Ottikon  für 13 Uhr Essen für uns bestellt. Der Eigentümer, ein Freund von ihr, bringt das Essen persönlich vorbei. Um 13 Uhr bin ich auch da und es bleibt etwas Zeit für ein Gespräch über unsichere Zeiten, die Rente und wie ein Ruhestand in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland aussehen könnte.

Den Nachmittag verbringen wir mit Adressenrecherche, Routen- und Zeitplanung für den Freitag.


Freitag

Um 10 Uhr brechen wir nach Winterthur auf.

Winterthur war der Sitz vom Internationalen Baum Archiv (IBA), das von der Berufsfotografin Verena Eggmann Steiner 1975 mit der Bestandsaufnahme historischer Bäume der Schweiz begonnen und zusammen mit Bernd Steiner 1997 als Museum gegründet wurde.

Nach ihrem Tod 1997 wurde das Museum IBA von Bernd Steiner mit seiner späteren Ehefrau, der Waldpädagogin Silvia Haubensak, weitergeführt und war bis 2007 in der Villa Rosenberg untergebracht. 2015 ging es ans Naturhistorische Museum Naturama in Aarau über, wo eingelagert ist und über neue Ausstellungsformate nachgedacht wird. Bernd Steiner, geboren 1938, war Journalist beim Tagesanzeiger und hat die Text- und Recherchearbeit für das IBA übernommen, um Antworten auf die Fragen zu finden, weshalb so viele Mythen und Legenden um Bäume ranken, und was sie zu heiligen Bäumen macht.

Bernd Steiner und Silvia Haubensak Steiner

Genau das sind auch meine Fragen: Woher kommt die Baumverehrung, welche Rolle spielen Bäume in der Menschheitsgeschichte und welche Verbindung gibt es zum Tanz? Heute ist klar: Bäume und Wald sind für unser (Über)Leben auf der Erde unverzichtbar. Nicht nur als Holzlieferanten für Heizung und zum Bauen und nicht als umtanztes Heiligtum. Aber als Symbol für das Leben, für die Lebendigkeit, für die auch der Tanz steht: „Denn wo der Baum ist, ist Leben, wo der Baum ist, ist Wasser, und wo Wasser ist, ist Leben“ sagt Herr Steiner in meinem Video, in dem er über die Entstehungsgeschichte vom IBA erzählt. Bebildert habe ich die Aufzeichnung u.a. mit Fotos von Verena Eggmann.

Angekommen in Winterthur will ich als Erstes im Bildarchiv Winterthur das bestellte Bild der Villa Rosenberg bezahlen. Eine Onlineüberweisung hätte Bearbeitungsgebühren gekostet und den Preis für das Bild fast verdoppelt. Es wird mir per E-Mail zugesendet.

Kurz vor 12 Uhr sind wir an unserem Tisch im Restaurant National, Herr Steiner hat reserviert. Er kommt kurz danach.  Meine Themen für dieses Interview sind Tanzbäume in der Schweiz und Fragen zur Kulturgeschichte von Bäumen. Herr Steiner ist ein Fachmann für Bäume und die „Kulturgeschichte der Sakralen Bäume und Haine aus fünf Jahrtausenden“.  Seine Forschungen und Erkenntnisse fasst er u.a. in seinem Buch „Götterwohnungen“ zusammen und legt darin „die erste umfassende Monografie zu Herkunft, Wesen und Wandel der sogenannten ‚Heiligen Bäume‘ vor.“

Quelle:Bernd Steiner, Götterwohnungen, Kulturgeschichte der Sakralen Bäume und Haine aus fünf Jahrtausenden, CH-Basel, Schwabe AG, Verlag Johannes Petri, 2014 Derzeit nicht erhältlich

Meine erste Frage nach den Tanzbäumen in der Schweiz beantwortete er kurz und bündig: Es gibt keine! Die einzigen Bäume, auf denen wahrscheinlich getanzt wurde, wären die Schützenlinde in Stein am Rhein und die umbaute Schützenlinde in Brugg. Laut meiner Recherchen waren die beiden Bäume Schützenlinden, auf denen bei Festen wahrscheinlich auch getanzt wurde. Wobei die Brugger Linde dafür zu klein ist. Dadurch wird die Schützenlinde aber nicht zur Tanzlinde! Eine Enttäuschung! Ich habe auf alte, nicht umbaute Bäume in der Natur gehofft, um die getanzt wurde. Es folgt mehr als eine Stunde Gespräch über die Kulturgeschichte der Bäume. Er ist ein riesiges Archiv aus Wissen über Bäume, ihre kulturgeschichtliche Bedeutung und die Baumkulte, das er ganz auf die antiken Quellen und die moderne Altertumsforschung stützt.

Er erzählt über die geheimnisvolle Baum-Isis aus dem alten Ägypten, deren Abbild zum ersten Mal 1426 v. Chr. erscheint. Und von anderen weiblichen Gottheiten und ihrem Bezug zu den Bäumen.

Er berichtet auch über heilkundige Frauen und Hebammen, und wie es zu Hexenverbrennungen z.B. nach der großen Pestwelle von 1347 – 1351 gekommen ist, nach der ein „normales Leben“ nicht mehr möglich war, weil zu viele Menschen durch die Pest gestorben waren, so dass in der Landwirtschaft und im Handel von Adel und Klerus während Jahrzehnten die Arbeitskräfte fehlten. Die Kirche suchte nach einem Erlass, der die Geburtenrate hochschnellen lassen sollte. Aus dieser Zeit werden Pesttänze und die Verbannung der Pest in die Pestlinden überliefert. Hier kann ich einen Bezug zu den Hexen von Thale und dem Brocken herstellen, die im Abschnitt „Warum um den Baum tanzen?“ den Anfang meiner Recherche gebildet haben. Bereichert mit vielen weiteren Informationen bin ich für meine weitere Arbeit gut gerüstet.

Später kommt Frau Silvia Haubensak Steiner dazu, das Gespräch zu viert ist kaum zu bremsen.

Gegen 15 Uhr brechen wir zum Besuch bei der Schützenlinde in Stein am Rhein auf. Die Dendrologische Gesellschaft Schweiz hat mich vorgewarnt: Die einst schönste geleitete Linde der Schweiz mit doppeltem Astkranz wäre sehr angeschlagen und ihr Überleben unsicher. Ihr Anblick lässt an dieser Äußerung kaum Zweifel.

Im Anschluss an diese traurige Besichtigung machen wir einen Besuch in Stein am Rhein und einen Abstecher zum Rheinfall.


Samstag

Für den Samstag haben wir uns den Besuch der letzten umbauten Schützenlinde der Schweiz in Brugg vorgenommen. Ihre Errichtung auf einer geleiteten Linde wird auf das Jahr 1615 datiert und die Plattform ist nur über eine Brücke von der ehemaligen Schützenwirtschaft aus zugänglich. Heute ist dort ein Kindergarten untergebracht. Ob die Kinder darauf spielen dürfen, konnte ich nicht herausfinden. Die Linde musste 1785 durch eine neue ersetzt werden, die wiederum 1949 anfing zu verkümmern, 1960 gefällt, und durch eine neue ersetzt wurde. Die ganze Konstruktion wirkt auf mich leblos, der Baum zu klein für die Aufbauten. Vielleicht vor allem deshalb, weil noch kein Grün sie zu einer Lindenlaube verschönt.

Quelle: Rainer Graefe, Bauten aus lebenden Bäumen, Geleitete Tanz- und Gerichtslinden, Aachen-Berlin, Geymüller – Verlag für Architektur, 2014 S. 62

Unseren kulinarischen Aspekt der Baumreise setzen wir in Brugg fort und essen im Restaurant Babylon. Die Gerichte schmecken ausgezeichnet und wir schlemmen uns durch einen großen Teller Mezze.

Den nächsten Stopp machen wir bei der Linde von Linn. Sie gehört zu den beeindruckendsten Bäumen Europas und ist der bekannteste lebende Baum in der Schweiz. Sie war die Inspiration für Verena Eggmann Steiner ihr privates photographisches Schaffen den Bäumen zu widmen.

Ein Pflanzdatum ist nicht überliefert, auch nicht, dass sie als Pestlinde gepflanzt worden sei. Allerdings ist der Spruch „Fallt ihre Schatte uf s Ruedelis Hus, se isches mit allne Welte us!“ überliefert. So würde sie, wenn sie groß genug sei, ihren Schatten auf die 2 km entfernte Habsburg werfen, und damit das Ende der österreichischen Herrschaft über die schweizerische Eidgenossenschaft anzeigen. Über die Linde von Linn gäbe es im 10bändigen Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens gewiss einen recht langen Eintrag. So könnte dort erwähnt sein, dass die während einer Pestepedemie frisch gepflanzte Linde die Pest bannen und weiteres Unheil abwenden würde. Oder dass die als Hexe verschriene Anna Meier unter der Linner Linde mit dem Teufel „in Verbindung getreten“ sei. Fast wäre die Linde deshalb gefällt worden. Doch sie hat mehrere Feuer, weitere Pestepidemien einen Vergiftungsversuch überlebt. Informatives über die Linde von Linn.

Linde von Linn (Foto Seraina Stoffel)

Auf dem Heimweg möchte ich durch Dübendorf fahren, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Seit ich mich mit Bäumen beschäftige, ist mir dort der zentrale Lindenplatz mit der großen Linde und dem Einhorn als städtischem Wahrzeichen wieder eingefallen. Den Platz wollte ich fotografieren – aber da war eine Baustelle, eingezäunt, und nicht mehr wie früher – eigentlich habe ich nach 40 Jahren kaum etwas wiedererkannt.


Damit ist meine Baumreise in die Schweiz zu Ende. Am Sonntag sind wir zu Christian Spucks großartiger Messa da Requiem im Opernhaus Zürich verabredet – absolut beeindruckend .

Zum Abschluss meiner Reise begleite ich Annina am Montagabend zu ihrer Chorprobe bei Manuel Oertli und darf glücklich mitsingen.


Hi, ich bin Seraina

Mein künstlerischer Schwerpunkt liegt auf der Tanzimprovisation und der Interaktion mit anderen Kunstformen. Mein Anliegen ist der Dialog mit Tanz durch künstlerische und pädagogische Projekte.